Phrenologie

  1. und verwandte Denkströmungen

Phrenologie war eine wissenschaftliche Lehre im 19. Jahrhundert, welche das Studium der menschlichen Schädelform als Mittel zur Selbsterkenntnis propagierte. Dabei stand sie in in einer Denktradition, die sich bereits zuvor bemühte, aus der physischen Form einzelner Menschen ihren Charakter zu lesen.

Physiognomie

Zurückgreifend auf griechische Vorbilder war Johann Kaspar Lavater (1741-1801) davon überzeugt, dass sich der Geist des Menschen in seinem Körper ausdrücken müsse. Zeit seines Lebens bemühte er sich, diese Vorstellung auf wissenschaftliche Füße zu stellen, allerdings mangelte es ihm stets an einer Theorie, auf welche Weise Geist und körperliche Gestalt zusammenhängen sollen. Stattdessen stellte er ausschweifende empirische Studien an, indem er alle möglichen Körperteile an Menschen untersuchte, die für einen bestimmten Wesenszug bekannt waren. Im Rahmen dieser Untersuchungen legte er eine Sammlung von Scherenschnitten und anderen Portraits an. Seine Lehre nannte er Physiognomie.

Von Beruf Pastor, war Lavater mit einer moralisierenden Weltsicht und der schwelgenden Redeweise eines Predigers ausgestattet. Er hatte eine klare Vorstellung davon, welche Wirkung seine Lehre haben sollte. Seine Methodik unterschied zwischen der eigentlichen Physiognomie, welche die „festen“ Aspekte der menschlichen Gestalt behandelt, von der Pathognomie, unter der er die kulturell beeinflussten Aspekte wie Rede, Mimik und Gestik zusammenfasste. Lavater sah sowohl die höfische Welt als auch das gemeine Volk in der Pathognomie gefangen. Die Physiognomie hingegen sollte einem neu entstehenden, selbstbewussten Bürgertum dazu verhelfen, sich selbst zu erkennen. Tatsächlich erreichten Lavaters zahlreiche Publikationen (in der Reihe „Physiognomische Fragmente“) vor allem Ärzte und andere bürgerliche Berufsstände.

Phrenologie

Franz Joseph Gall (1758-1828) entwickelte die Theorie, dass das menschliche Gehirn aus 27 getrennten, funktional spezialisierten Bereichen bestehe, die unterschiedliche Charaktereigenschaften steuern. In den Gehirnen hoch entwickelter Tiere machte er lediglich 20 dieser Fakultäten aus, so dass es die verbleibenden sieben waren, welche den Menschen zum Menschen zu machen schienen. Während Tiere ihren vorgegebenen Neigungen hilflos ausgeliefert seien, befähigten seine speziellen Fakultäten den Menschen, seine natürlichen Anlagen zu erkennen und sich zu seinem Vorteil an sie anzupassen. Damit entgegnete Gall der Kritik, er vertrete einen reinen Determinismus.

Wie sehr einzelne Hirnareale ausgebildet sind glaubte Gall an deren jeweiliger Größe erkennen zu können. Diese Größenausbildungen bestimmten die Proportionen des Kopfes und somit das physische Erscheinungsbild. Durch seine Hirnlehre war es Gall also gelungen, das von Lavater vergeblich gesuchte Theoriegerüst für den Zusammenhang zwischen Geist und körperlicher Gestalt zu errichten.

Gall wehrte sich stets gegen den Ausdruck Phrenologie für seine Methode und bevorzugte Begriffe wie „Schädellehre“ oder, wo akademischer Gestus gefragt, „Cranioskopie“. Dennoch wird er heute regelmäßig als Begründer der Phrenologie bezeichnet. Populär gemacht wurde der Begriff durch seinen Assistenten Johann Kaspar Spurzheim (1776-1832), der sich während der Pariser Jahre mit ihm entzweite und eine eigene Karriere als Phrenologe begann. Auf dem Kontinent wurden Galls Lehren durch Carl Gustav Carus (1789-1869) aufgegriffen, der sie prägnant von der Physiognomie Lavaters abgrenzte und sich 1821 auch mit Goethe traf.

Nachdem 1861 der französische Chirurg Paul Broca ein Sprachzentrum im menschlichen Gehirn nachwies, geht man noch heute von einer Gliederung in spezialisierte Bereiche aus, die sich funktional unterscheiden. In dieser Hinsicht hatte Gall seiner Zeit voraus gedacht. Er irrte aber in der Annahme, die äußere Form des Schädels bilde die Form des Gehirns ab und auch die empirische Ermittlung der von ihm definierten Hirnareale lässt sich mit keinem modernen Verständnis von wissenschaftlicher Vorgehensweise vereinen.

Morphologie

In den 1770er Jahren war Goethe fasziniert von den Lehren Lavaters, für dessen Physiognomische Fragmente er mehrere Beiträge verfasste. 1777 erschien eine physiognomische Interpretation eines Goetheportraits. Aus den Beiträgen Goethes geht aber auch schon hervor, dass er mit Lavater in grundsätzlichen Punkten nicht einverstanden war. Z. B. war ihm dessen Bick auf Organismen zu statisch. Goethe sah alles Lebende in einem ständigen evolutionären Wandel und sah daher eine Beschreibung organischer Formen nur dann als adäquat an, wenn diese als Übergangsform begriffen wurde. Er verfolgte selbst naturwissenschaftliche, auch osteologische, Studien, die schließlich zu einer eigenen Sichtweise führten, die er Morphologie nannte. Von Lavater wandte Goethe sich zunehmend ab, nicht zuletzt wegen dessen pastoralen Pathos.

Goethes Morphologie interessierte sich nicht für den Charakter einzelner Individuen, sondern für das grundlegende Wesen ganzer Gattungen oder auch des Lebewesens an sich. Daher sein Bestreben, eine Urpflanze bzw. ein Urtier herauszuarbeiten.

 
Zurück zu „Themen“Themen.html